Mit den Augen der Tiere

Thomas Nagel stellte einst die philosophische Frage: Wie ist es für eine Fledermaus, eine Fledermaus zu sein? Fledermäuse nehmen die Umwelt gänzlich anders wahr als wir. Während für uns Menschen der Sehsinn der wichtigste ist, verlassen sich Fledermäuse auf eine Art Echolot-Ortung. Das wissen wir – und doch können wir kaum nachempfinden, wie es wohl wäre, als Fledermaus bei Nacht auf Mottenfang zu gehen. Gut 40 Jahre später stellt Guillaume Duprat die Frage:

„Was sieht eigentlich der Regenwurm?“


Guillaume Duprat: Was sieht eigentlich der Regenwurm?

Die Welt mit den Augen der Tiere sehen

© 2013 Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München


In diesem aufwendig gestalteten, großformatigen Bilderbuch lädt uns Duprat ein, die Welt mit den Augen von Regenwurm, Adler oder Chamäleon zu sehen. Er vergleicht, wie 20 verschiedene Tiere ein und dieselbe Szene wahrnehmen würden. Dabei wird schnell deutlich: unsere Sicht der Dinge ist nur eine von vielen!

Die Abbildungen der Tiere sind so gestaltet, dass sich der Bereich um die Augen herum wie eine venezianische Maske aufklappen lässt. Dahinter verbirgt sich zum einen das Bild, das dieses Tier von besagter Szene wahrnimmt. Zum anderen finden wir hier genauere Einzelheiten zur Art der Wahrnehmung dieses Tieres. Also welche Farben es sehen kann, wie gut es Bewegungen wahrnimmt und wie groß sein Gesichtsfeld ist – oder welche anderen Wahrnehmungen außer dem Sehsinn für dieses Tier besonders wichtig sind.

Auf diese Weise erfahren wir, dass Hunde quasi rot-grün-blind sind, für Kolibris hingegen rot eine der eindrücklichsten Farben ist. Adler haben sozusagen ein eingebautes Fernglas, während Mäuse kurzsichtig sind. Schnepfen genießen einen unglaublichen Rundumblick von 360° und können sogar sehen, was hinter ihrem Rücken passiert. Schnecken können gar keine Farben wahrnehmen, während Insekten ultraviolette Blütenmuster erspähen – die für uns Menschen unsichtbar bleiben. Regenwürmer „sehen“ übrigens gar nichts. Sie nehmen über Fotorezeptoren Licht wahr: das hilft ihnen, im schattigen Dunkel zu bleiben und nicht auszutrocknen.

Alle Tiere sind liebevoll und detailreich in Großformat gezeichnet: sie scheinen uns auffordernd direkt anzusehen! Sobald wir ihre Masken zur Seite klappen, können wir ein wenig eintauchen in ihre Welt, und wir können versuchen, nachzuempfinden, wie sie die Welt sehen. Auf diese Weise verlassen wir für eine Weile unsere eigene Perspektive und versuchen die von Eichhörnchen, Fliege oder eben Fledermaus einzunehmen. Perspektivübernahme im wörtlichen Sinne – eine Fähigkeit, die zu trainieren sich lohnt, da sie genau an der Schnittstelle von sprachlicher und kognitiver Entwicklung stattfindet.

Für die wissensdurstigeren unter den Vorschulkindern bietet das Buch separate Wissensseiten, auf denen der Aufbau des Auges erklärt wird, was das „Gesichtsfeld“ ist oder wie das Farbspektrum aufgebaut ist. Wer mag, kann also hier sein Fachwissen erweitern, zusammen mit den dazugehörigen Fachwörtern.