Eine dunkle Reise zu den Farben

Das schwarze Buch der Farben

Es drängt sich einem nicht auf. Es kommt ganz schlicht daher. Das schwarze Buch der Farben. Es ist ganz einfach schwarz. Sogar die Bilder sind schwarz. Auf schwarzem Grund. Aber man kann sie erfühlen: Federn, Erdbeeren, Regentropfen...

 

Farben sehen wir nicht in diesem dunklen Buch. Genau, wie blinde Kinder Farben nicht sehen können. Und doch gibt es in ihrem Wortschatz „grün“ und „rot“ und „blau“. Und hinter diesen Farbwörtern stecken auch für nicht-sehende Kinder tiefe Bedeutungen.


Menena Cottin & Rosana Faría: Das schwarze Buch der Farben. 

Aus dem Spanischen von Helga Preugschat. © 2013 Fischer Schatzinsel, Frankfurt am Main


Gerade in der Beschränkung auf das Schwarz, im Nicht-Zeigen der Farben, werden die Assoziationen von Kindern zu verschiedenen Farben besonders hervorgehoben. Jede Seite ist einer Farbe gewidmet. Und auf jeder Seite wird beschrieben, welche Bedeutung, welche Bilder, welche Erinnerungen ein blindes Kind mit dieser Farbe verknüpft.

 „Die Farbe Rot ist so süß wie eine Erdbeere und so saftig wie eine Wassermelone,

und sie tut weh, wenn sie aus seinem abgeschürften Knie quillt.“

Wie eindrücklich wird uns mit diesem Buch bewusst, dass wir mit Wörtern nicht nur einfach benennen, was wir vor uns sehen, sondern – viel wichtiger – wir zu jedem Wort ein reichhaltiges Gedanken- und Bedeutungskonstrukt im Kopf haben. Das gilt nicht nur für Farbwörter, sondern auch für alle anderen.

Dieses poetische Buch lädt auch uns sehende Erwachsene und Kinder dazu ein, Ideen, Geschichten, Gefühle, Erlebnisse zu den verschiedenen Farben zu sammeln. Lassen Sie sich von den Gedankenverbindungen der Kinder überraschen!

Ganz nebenbei fordert das schwarze Buch unseren Tastsinn heraus: wie fühlt sich das Bild der Haare an? Wie das der vertrockneten Blätter? Erfühlen, ertasten kann man auch die Schriftzeichen: der gesamte Text ist zusätzlich in den Punkten der Blindenschrift, der Braille-Schrift auf jede der dicken Seiten geprägt. Ganz unmittelbar ist hier einsichtig: unsere Schrift, die den Kindern vertraut ist, ist nur eins von möglichen Symbolsystemen. Völlig gleichwertig steht daneben die Blindenschrift, mit ihren eigenen Symbolen, ihrer eigenen Logik. Das komplette Braille-Alphabet befindet sich am Ende des Buches: wie wohl mein Name in der Braille-Schrift aussieht? 

Nicht zuletzt ermutigt das schwarze Buch dazu, sich in die Perspektive von Kindern hineinzuversetzen, die nicht sehen können. Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme entwickelt sich in der Kita-Zeit und ist eng verknüpft mit der sprachlichen Entwicklung. Wie stehe, bewege, fühle ich mich, wenn ich die Augen verbunden habe? Kann ich mit geschlossenen Augen vielleicht sogar intensiver hören oder schmecken? Und jetzt, wenn ich die Augen zu habe: was ist die Farbe gelb für mich?